Immer die Nase im Wind

Lovely Mila 

… und deine Seele rannte …

Wieder mal befinde ich mich auf der Rückreise von Österreich aus im Zug. Es ist Sonntag Abend ca. 19.50 am 04. Juni 2023. Mein Handy klingelt, ich schaue aufs Display, die Freundin meines älteren Sohnes ruft an. Ich gehe ran. Sie meldet sich und weint ganz bitterlich. Ich denke: »Ach du scheiße, die beiden haben Schluß gemacht.« Irgendwie bekommt sie ein paar Sätze zu Stande. Ich verstehe etwas wie »ich bin hier mit Finnegan« und gerate in Panik, sitze sofort kerzengerade in meinem Sitz und denke, es wäre etwas mit meinem Sohn passiert. Dann sagt sie – nein sie schreit fast – »Mila ist tot!!!!«

Ich bin verwirrt. »Welche Mila?«, denke ich den Bruchteil einer Sekunde lang und verstehe beinahe sofort, sie meint meine Mila. Meine Hündin. Dennoch bleibe ich irgendwie gelassen und beruhige sie. Sie schluchzt unglaublich weiter, dass es ihr so leid täte, denn Mila war bei ihr an der Leine. Ich versuche sie zu beruhigen und sage, dass Hunde nicht einfach sterben, dass sie etwas gehabt haben muss. Irgendwann weiß ich, dass Mila beim Spaziergang einfach tot umgefallen ist. Mein Sohn ist am Telefon und erzählt mir ziemlich gefasst, was passiert ist.

Unsere hitzige Mila hat sich enorm bei der Begegnung mit einem anderen Hund aufgeregt und ist kurz nachdem sie sich wieder etwas beruhigt hat einfach tot umgefallen. Wie vom Blitz getroffen. Sie war offensichtlich schon gestorben bevor sie den Boden berührt hat. Mein Sohn hat versucht, eine Herzmassage zu machen und dann wollte er seine tote Hündin nach Hause tragen.

Ich rufe die Frau vom Bauern an, die um die Ecke wohnt und von deren Hof meine Hunde stammen, damit die beiden Unterstützung bekommen. Danach rufe ich meinen Ex-Mann an. Alle kommen sofort zu Hilfe. Aber helfen kann Mila niemand mehr. Sie ist einfach an diesem Sonntag Abend gestorben. Ohne Vorwarnung, ohne erkennbar schlapp oder krank gewesen zu sein. Und sie ist nur sechs Jahre alt geworden.

Mila und ihr geliebter Napf

Dann geht alles ganz schnell. Meine Familie beerdigt sie auf dem familieneigenen Waldgrundstück. Meine beiden Söhne heben das Grab aus, legen die tote Hündin hinein, zusammen mit ihrem Fressnapf und einem Ball sowie einer Blume, bedecken sie mit einem Handtuch und schaufeln das Grab wieder zu. Ich bin per Video-Anruf dazu geschaltet, denn ich sitze immer noch im Zug. Sie können mit der Beerdigung nicht auf mich warten, weil dann die Leichenstarre einsetzen würde und das wollen wir uns alle nicht antun.

Ich sitze also im Zug zwischen den Wagons bei den Toiletten auf dem Boden, starre auf meine Handy, sehe meine Mila im Grab liegen und weine ungehemmt. Mich schauen ein paar Mitreisende, die vorbei gehen, sehr verwirrt an. Ich kann ihnen ansehen, dass sie überlegen ob sie mich ansprechen sollen oder nicht.

Eigentlich sieht Mila da in ihrem Grab ganz niedlich aus, eingekuschelt als würde sie schlafen. Mein jüngerer Sohn hat ihr wohl noch den Schwanz richtig hingelegt und ihre Pfote in den Fressnapf geschoben, weil sie so oft bereits einige Zeit vor der Fressenszeit mit Pfote im Napf in der Küche gesessen hat. Als Welpe ist sie gerne auch mit dem Kopf im Napf eingeschlafen. Ich bin sehr stolz auf meine beiden Söhne, wie souverän, liebevoll und selbstverständlich sie mit dieser Situation umgehen.

Die restliche Zugfahrt fühle ich mich wie betäubt und total leer. Dann spreche ich die schwangere Mitreisende im Vierersitz gegenüber an und frage sie nach der Schokolade, die sie mir nach dem ersten Telefonat direkt mit den Worten angeboten hat: »Das ist ja schrecklich! Es tut mir so Leid. Wenn Sie Schokolade brauchen, ich habe welche. Sie können mich auch später noch danach fragen.« Was für eine liebe, aufmerksame und einfühlsame Frau. Am liebsten würde ich sie küssen.

Milas Grab in den ersten Tagen

Zu Hause angekommen bin ich immer noch leer, müde, ausgelaugt. Wir umarmen uns still und sehr bedrückt, reden noch eine kurze Weile über alles. Der Schock sitzt bei uns allen tief. Meine Schwägerin, die Human Medizinerin ist, erklärt uns, dass es sich bei einem so schnellen Tod höchstwahrscheinlich um ein geplatztes Aneurysma gehandelt hat. Diese Erklärung für Milas plötzlichen Tod macht es mir in der nächsten Zeit ein bisschen leichter. So war keiner »schuld«, wir haben nichts übersehen.

Ich kann die ganz Nacht nicht richtig schlafen, wache früh auf, trinke einen Kaffee und gehe mit Moby los um Mila an ihrem Grab zu besuchen. Ich bin sehr unsicher, was mich erwartet. Aus Erfahrung weiß ich, dass mein Körper auf schockierende Erlebnisse sehr intensiv reagiert. Kurz nach der Trennung von meinem Ex vor zwei Jahren, hatte ich zwei sehr, sehr heftige Panikattacken und konnte länger nicht richtig laufen, nicht schlafen, nichts essen.

Also bin ich sehr nervös, als ich am Grab ankomme. Sie liegt unter einem Kirschbaum. Beim Graben ist einem meiner Söhne der Stil der Schaufel abgebrochen und sie haben für Mila daraus ein Kreuz gebastelt. Moby schnüffelt sehr interessiert an der frisch aufgehäuften Erde. Er scheint irgendwie zu wissen, dass hier seine Schwester liegt. Ich weine und weine und weine. Dann hole ich mir einen Baumstumpf als Hocker und weine weiter. Moby liegt brav neben mir im Platz, halb auf ihrem Grab. Irgendwann stehe ich auf pflücke zwei Mohnblumen auf der angrenzenden Wildwiese und stecke sie ihr ans Kreuz. Mein Körper scheint gut mitzumachen. Ich kann mich beruhigen und bald darauf weitergehen.

Moby scheint alles zu verstehen …

Auf dem Rückweg gehe ich eine größere Runde durch den Wald. Ich denke an sie, wie sie zwischen den Bäumen hin und her flitzt. Es ist beinahe so als ob ich sie sehen kann. Und dann fühle ich sie. Es fühlt sich an, als würde sie oder ihre Seele wie eine Wolke zwischen den Bäumen hängen und vom leichten Wind hin und her getrieben werden, sich ausbreiten und uns sehen. Sie ist ganz präsent. Ich denke: »Was Trauer alles mit einem macht oder werde ich jetzt komplett irre…« Aber dann spüre ich sie so intensiv, dass ich mir sicher bin, dass sie da ist. Sie löst sich auf, sie löst sich aus ihrem Körper heraus und wird Teil dieses Waldes in dem sie so oft herum gelaufen ist. Nun kann sie alles jagen, was sie möchte, muss sich nicht mehr benehmen und ihren Jagdinstinkt unterdrücken. Sie ist frei und kann so wild sein wie sie will.

Ich verstehe auf einmal den Sinn von kultischen Handlungen und dem so tief verwurzeltem Glauben in uns Menschen an ein Leben nach dem Tod, den es in sämtlichen Religionen dieser Welt zu geben scheint. Ich bin kein religiöser Mensch, vielleicht ein wenig spirituell. Zumindest glaube ich fest daran, dass es weitaus mehr zu sehen, fühlen und zu erleben gibt in diesem Universum als das, was wir wahrnehmen können. Schließlich sind wir an unsere Sinne gebunden und können nur das beurteilen, was wir mit ihnen erfahren können. Schon früh habe ich das Buch »Wie wirklich ist die Wirklichkeit« von Paul Watzlawik gelesen, in dem es u.a. genau um dieses Thema, nämlich unsere quasi begrenzte Wahrnehmung, geht. Dieses Werk hat mein Denken nachhaltig beeinflusst. Wir können uns alles mathematisch, physikalisch und chemisch erklären, was um uns herum passiert. Aber dieser so tiefgreifende Glaube an das Mehr, an ein Leben nach dem Tod oder sogar eine Wiedergeburt scheint so fest in uns und unseren Vorfahren verankert zu sein, dass ich wirklich vermuten möchte, dass es eben dieses Mehr um uns herum und in unserer Welt gibt. 

Ihre Grabplatte stellen wir nach drei Wochen auf

An den darauffolgenden Tagen gehe ich jeden Morgen und jeden Abend zum Grab, bringe von unterwegs Steine, Tannenzapfen, Stöcke und jedes Mal Wildblumen, Farn, Kamille, Korn oder Efeu mit, einfach alles, was mir unterwegs begegnet und besonders ins Auge fällt. Von zu Hause bringe ich Muscheln, blühenden Lavendel, Salbei oder Rosmarin und Steine mit. Es fühlt sich gut an, Mila etwas dazulassen.

Bei jedem Gang durch den Wald spüre ich sie an der immer gleichen Stelle. Jedes Mal ist es, als ob sie als Seelen-Wolke in den Bäumen hängt. Ich bin sicher, dass sie glücklich ist. Mir kommt das Gedicht »Mondnacht« von Freiherr Joseph von Eichendorff in den Sinn, da heißt es in der letzten Strophe: »Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.« Für Mila dichte ich diese Zeile um: »Und deine Seele rannte weit in den Wald hinaus, sie jagte und rannte immer schneller, als wolle sie nach Haus«.

Dieser Wald und all diese Gedanken schenken mir unglaublich viel Trost, so dass ich nach den Spaziergängen erleichtert und recht zuversichtlich nach Hause komme. Auch wenn sie dort fehlt. Ich schaffe es einigermaßen gut, durch diese anfangs schwere Zeit zu kommen.

Zu Hause weinen wir viel und verstehen uns oft ohne Worte. Aber wir lassen sie auch lebendig bleiben, indem wir viele Erinnerungen an diese verrückte und wilde sowie lebensfrohe Hündin austauschen, die immer Vollgas gegeben hat.

Moby ist in den ersten Tagen nach Milas Tod eigentlich ganz gut drauf. Dies läßt aber nach zwei, drei Tagen sehr stark nach. Er wirkt niedergeschlagen, mag nicht mehr alleine in den Garten, um am Zaun die Katzen wegzubellen und irgendwann frisst er nur noch wenn ich neben ihm auf dem Boden sitze. Ich muss mir die Frage danach eigentlich erst gar nicht stellen, es ist Fakt: Hunde trauern auch. Ihm fehlt sie genauso wie uns.

Wilde & süße Mila – wir vermissen dich, du Wirbelwind!

So laufe ich jeden Tag durch den Wald, besuche ihr Grab,  spüre sie zwischen den Bäumen und finde dort den nötigen Trost. 

Eichendorff begleitet mich in meinen Gedanken unterwegs noch ein bisschen weiter und schlussendlich formuliere ich sein ganzes Gedicht um, finde aber keine geeignete Überschrift, nur einen Schlusssatz außerhalb des Versmaßes:

Es war als hätt’ ein Blitz
unsere Mila schnell getroffen,
Dass sie nun in stiller Ruh’
von ihrem Paradies darf hoffen.

Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht.
Es rauschten leis’ die Wälder,
so unendlich traurig uns dies macht.

Und deine Seele rannte
weit in den Wald hinaus.
Sie jagte und rannte immer schneller,
als wolle sie nach Haus.

Mila, du bist jetzt die Königin des Waldes.

Genau vier Wochen nach Milas Tod gehen Moby, Bo und ich wieder auf Reisen. Wir fahren erst nach Hohenems zu Alex, um dann eine Woche lang gemeinsam nach Italien und in die Schweiz zu fahren. Moby merke ich immer noch an, dass ihm seine Schwester fehlt und ich hoffe, dass er übers Reisen ein bisschen abgelenkt ist. Mir fehlt sie auch weiterhin und kurz vor meiner Ankunft in Hohenems muss ich während der Fahrt laut und bitterlich weinen. Moby schaut mich aus seinen treuen braunen Augen an und es ist, als würde er mich vollends verstehen.