Mein sweet boy

Treuer Moby

Vom Loslassen

»Wer loslässt hat die Hände frei.«, sagt man. Mag sein. Vor lauter Loslassen, weiß ich beinahe nicht mehr wie man festhält, denn ich habe in den letzten Jahren viel losgelassen: Meine Heimat, dann später meine Ehe und damit auch das herkömmliche Familienleben, einen Liebhaber und alles, was ich mit ihm geteilt habe, meine Mutter, die immer mehr in ihrer Demenz verschwindet und dadurch nicht mehr die Gleiche ist, im letzten Sommer meine Hündin Mila, die einfach ohne Vorwarnung tot umgefallen ist. Und nun ist es soweit, dass ich meinen Hund Moby loslassen muss. Er ist krank, Lymphdrüsenkrebs im Endstadium und wird uns bald verlassen.

Geplant werden wir ihn einschläfern lassen, um ihm weiteres Leid zu ersparen. Also muss ich loslassen, vor allem meinen Glauben und meinen Willen Dinge steuern zu können.

Ich kann meinem Hund nicht helfen und ich kann meinen Sohn, der gerade in den Abiturprüfungen steckt, nicht davor bewahren gleichzeitig seinen Hund zu betrauern. Ich hätte es gerne getan. Ich hätte so gerne Moby das Leben verlängert und nebenbei uns allen diesen nun auf uns zu kommenden Schmerz erspart. Ich habe bei unserem Tierarzt quasi zwei Tage heuausgehandelt, zumindest für die erste Klausur meines Sohnes. Sonst wäre Moby jetzt bereits nicht mehr bei uns. Ob das die richtige Entscheidung ist, das wird sich zeigen. Und wie immer kommt doch alles anders als geplant. Meine »Verhandlung« beim Tierarzt liegt eine Stunde zurück. Es ist Montag Nachmittag und zu Hause erzähle ich zu großen Teilen die Wahrheit, lasse aber das eine Detail weg, nämlich, dass Moby am Mittwoch eingeschläfert werden muss. 

Er hatte immer alles im Blick und hat aufgepaßt auf uns

Seit zwei Wochen schaue ich mir an, wie er von Tag zu Tag mehr abbaut. Wir sind fast jede Minute in diesen zwei Wochen zusammen. Medizinisch ist alles ausgereizt. Die Kortison-Therapie hat bei der ersten Spritze super gewirkt und er war fast der Alte, fit, agil und aufmerksam. Jedoch hat die Wirkung nach ein paar Tagen recht stark nachgelassen. Die zweite Spritze wirkte dann fast gar nicht mehr und das Umsteigen auf Tabletten hat ihm auch nicht mehr helfen können. Der Krebs ist zu weit vorgedrungen. Wahrscheinlich schon im Rückenmark und ganz sicher in der Milz.

Moby liegt eigentlich die meiste Zeit im Wohnzimmer unter dem Tisch und schläft komatös mit offenen Augen. Er bekommt recht wenig mit. Auch wenn ich mal den Autoschlüssel in die Hand nehme reagiert er nicht. Normalerweise springt er dann sofort auf und hüpft aufgeregt zur Tür, weil er sich so freut, dass es los geht und er mitkommen kann. Mein treuer Begleiter, der mir seit 11 Jahren auf Schritt und Tritt folgt, liegt nun eigentlich nur noch teilnahmslos herum und das beinahe den ganzen Tag lang. Aber er schaut mich, wenn er mal wach ist, immer noch so klar und aufgeweckt an. Er will leben, das kann ich die ganze Zeit sehen. 

Geschwisterliebe

Bis zum letzten Samstag. Wir sind viel im Garten und Moby auch. Er scheint sehr glücklich zu sein, dass wir alle da sind und er auf dem Rasen in der Sonne liegen kann. Dann kippt er abends um 20 Uhr im Vorgarten einfach um und kann nicht mehr aufstehen. Wir glauben, dass der nun sterben wird, streicheln ihn und weinen ein wenig. Er schläft immer mal wieder ein. Irgendwann kann er den Kopf heben und ich gebe ihm ein Schmerzmittel und etwas zu Trinken. 10 Minuten später schafft er es zumindest, sich aufzusetzen. Dort sitzt der nun mit hängenden Ohren und ist total erschöpft, nur vom Aufsetzen. Aber wir können sehen, dass er sehr stolz darauf ist, zumindest das geschafft zu haben.

Offensichtlich war es aber so anstrengend für ihn, dass er sich wieder hinlegen muss. Da er mitten im Blumenbeet hockt und er auf einem kleinen knorrigen Lavendelstrauch wieder zum Liegen kommen würde reiße ich den Lavendel kurzerhand raus, bevor er in Moby’s Bauch pickst. Nachdem er wieder ein kleines Nickerchen gemacht hat schafft er es tatsächlich aufzustehen, taumelt zum Wassertrog und trinkt. Wir geben ihm noch etwas zu Fressen und er schleicht danach die Treppe ins Schlafzimmer hoch.

Das war der Samstag. Den Sonntag verbringt er wieder überwiegend schlafend unterm Tisch. 

Mein treuer Freund

Nun, am Montag, weiß ich seit einer Stunde, dass seine Reise am Mittwoch vorbei sein wird. Ich versuche mir, weder vor meinen Söhnen noch vor meinem lieben Nachbarn Basti, der jeden Tag den kranken Moby und mich besuchen kommt, etwas anmerken zu lassen. Es ist ein komisches Gefühl. Alles wirkt surreal, so als würde ich einen Film schauen und mich gar nicht im eigenen Leben befinden. Wahnsinn, wie man sich selber emotional ausschalten kann.

Wir verbringen den restlichen Tag also völlig »normal«. Abends gehen wir alle ins Bett und ich wundere mich, dass Moby es immer noch die Treppe hoch ins Schlafzimmer schafft obwohl er doch so unendlich schwach ist. Nachts muss er, wie seit zwei Wochen in jeder Nacht, raus. Er hat schon die ganze Zeit starken Durchfall, trinkt unglaublich viel und muss daher auch oft Pipi.

Also stehe ich total verschlafen auf und lasse ihn in den Garten. Als er wieder reinkommt steht er im Wohnzimmer wie festgenagelt. Er will nicht mit mir nach oben gehen. Ich weiß sofort, er kann das nicht mehr. Also sage ich ihm, er soll bleiben und flitze hoch, um mein Bettzeug zu holen. Wir machen es uns im Wohnzimmer bequem. Er liegt unterm Esstisch und ich schlafe auf meinem dazugehörigen Küchensofa. Das geht recht gut. Moby muss ca. alle zwei Stunden raus. Ich schlafe aber jedes Mal wieder tief und fest ein und träume viel. 

Moby & Mila, we miss you both

Beim letzten Mal um sechs Uhr morgens lasse ich die Terrassentür einfach auf. Ich bin mittlerweile so müde, dass ich nicht warten mag bis er wieder hereinkommt. Ich schlafe sofort wieder ein und fange an zu träumen: Mila kommt mit Moby zusammen ins Haus. Sie springt ganz wild herum, freut sich unglaublich, uns zu sehen und fordert Moby die ganze Zeit auf, mit ihr zu toben und zu spielen. Irgendwann tollen die beiden dann wirklich durchs Wohnzimmer. Moby ein wenig gemächlicher und Mila wild und quirlig, beide wie eh und je. 

Ich werde um 7.30 wieder wach. Mein Sohn muss auch aufstehen und zu seiner ersten Abitur-Klausur. Ich weiß nach dieser Nacht, heute ist bereits Moby’s letzter Tag bei uns. Er wird es nicht bis Mittwoch schaffen. Er ist am Ende seiner Kraft. Seine Körperhaltung sieht aus wie in der Länge zusammen gestaucht, sein Schwanz ist eingeklemmt und er bewegt sich unglaublich langsam, seine Schritte sind schlurfend und tapsig. Manchmal habe ich den Eindruck, dass er gar nicht mehr richtig bei sich ist. Bei jedem Atemzug macht er ein leicht pfeifendes und rasselndes Geräusch.

Ich bitte und bete, dass er zumindest durchhält bis mein Sohn Bjarne aus dem Haus ist. 

Mein letztes Foto von ihm

Mein Deal mit dem Universum klappt. Moby schläft unterm Tisch und rührt sich nicht. Kaum sind Bjarne und seine Freundin um kurz vor neun aus der Haustür rufe ich beim Tierarzt an und vereinbare einen Termin für nachmittags. Alex schreibe ich kurz, wie krass das Alles ist. Ich rufe da an und verabrede mich für 14.45 Uhr zum Sterben meines Hundes. 14.45 Uhr damit wir ihn alle nochmals sehen können.

Nun muss ich das Ganze noch Finnegan erzählen. Nachdem wir gefrühstückt haben und beide geduscht sind setzte ich mich zu ihm an den Tisch und erzähle ihm weinend, dass es heute soweit ist und wir Abschied nehmen müssen von Moby. Er stockt kurz, aber es überrascht ihn nicht. Er streichelt den lieben armen Kerl und wuschelt ihm durchs Fell. Wir reden eine Weile ruhig und gefasst über alles. Mittlerweile ist es ca. 10.30 Uhr.

Ich weiß nicht, aber ich habe den Eindruck mein Hund hat mehr verstanden, als wir meinen. Er steht auf und schaut uns beide an mit einem Blick, wie »Los kommt mit. Es ist soweit.«, und geht zur Haustür. Ich lasse ihn raus. Er geht in den Garten, dreht langsam eine kurze Runde und steht vor der offenen Terrassentür, kommt aber nicht rein. Ich gehe zu ihm und sehe, dass ihm frisches, sehr, sehr rotes Blut aus der Nase rinnt. Dann geht ersteinmal alles ganz schnell.

Ich schnappe mir ein Handtuch, wische ihm das Blut weg, rufe beim Tierarzt an mit den Worten »Der Moby, er kann nicht mehr.« Wir können direkt kommen. Mit Finnegan kläre ich, ob er mitkommen möchte. Denn nachdem er bei Mila’s Tod dabei war, wollte er das eigentlich nicht nochmal erleben. Aber natürlich kommt er mit.

Moby versucht noch, wie immer, in den Bulli zu hüpfen, schaffst es aber kaum und ich hebe ihn rein. Ich bin sicher er weiß, was passieren wird.

Du bist so weit gereist und warst immer bei mir

Wir nehmen seine neue Reise-Decke mit. Geschirr und Leine packen wir zwar ein aber legen es ihm nicht mehr an. Auf der Fahrt hören wir in Dauerschleife »Coastline« von Hollow Cove. Mein Song, den ich 2022 auf unserem Weg nach Tarifa so oft gehört habe und damals nur dachte, wie passend dieses Lied für diese Reise ist. Der Weg nach Tarifa – zusammen mit meinen beiden süßen Hunden. Wir drei. Der Anfang von anja, bo und co. Diese Fahrt ist Moby’s letzte Fahrt in Bo. Auf dem Rückweg wird er tot sein.

Ich bin bis zu seinem letztem Atemzug bei ihm und habe meine Hand auf seinem Kopf. Er wird von unserem wirklich lieben und so emphatischen Tierarzt Doktor Ole im Bulli auf dem neuen Reise-Deckchen eingeschläfert. Loslassen. Wir müssen ihn aus Liebe loslassen, denn jede weitere Stunde wäre eine Qual für ihn. Komischerweise weine ich die ganze Zeit nicht. Nicht auf der Hinfahrt zum Arzt (da drücke ich meine Tränen weg, weil ich Moby nicht noch mehr verunsichern möchte), nicht auf der Rückfahrt mit dem toten Hund im Auto, nicht beim Ausheben des Grabes, nicht beim Zuschaufeln. Ich funktioniere, fühle mich immer noch wie in einem Film.

»Moby’s Sonnenbrille«

Wir beerdigen ihn neben Mila unter dem Apfelbaum im Garten von Siegfried, meinem Schwiegeropa. Während wir sein Grab ausheben, höre ich mein Telefon klingeln und gehe schnell zum Bulli.

Alex ruft an, also erzähle ich ihm kurz was mittlerweile passiert ist und wo wir sind. Dann packe ich mein Telefon wieder in meinem Rucksack und stehe vor der offenen Schiebetür. Moby liegt dort unter einer leichten Fleecedecke. Ich schaue meinen toten Hund an. In diesem Moment habe ich ganz eindringlich das Gefühl, ich müsste beiseite treten, ihm Platz machen, seiner Seele Platz machen, damit sie aus dem Bulli heraus kann, sich frei bewegen kann. Ich denke noch »Du hast sie echt nicht alle, anja.«, trete aber dennoch langsam zu Seite und es fühlt sich so an, als würde wirklich etwas an mir vorbei huschen und mich leicht streifen. Nachdenklich gehe ich zurück zu den anderen, um weiter zu graben. Wir sind zu fünft. Meine beiden Söhne (Bjarne ist mittlerweile fertig mit seiner Klausur), unser Nachbarjunge, der Moby auch schon von klein auf kannte, und mein Ex. 

Sein Grab mit Hula-Mädchen und Bulli

Als uns das Loch tief genug erscheint tragen meine Jungs und ich Moby mit seiner Reise-Decke und der lindgrünen Fleecedecke bedeckt zum Grab. Wir legen ihn vorsichtig hinein. Ich bleibe noch eine ganz Weile bei ihm hocken mit meiner Hand auf seinem Körper, der mir so unendlich vertraut ist. Auch jetzt kann ich nicht weinen. Ich atme mehrfach tief ein sowie aus und nehme still Abschied.

Es fühlt sich alles richtig an. Er konnte nicht mehr. Es tut mir einfach unendlich Leid, dass er leiden musste, bin aber froh, dass wir ihn erlösen konnten. Ich klettere aus dem Grab. Einen kurzen Moment stehen wir alle drumherum und werfen dann Blüten von den Obstbäumen und dem Fliederstrauch hier im Garten hinein. Ich lege noch »seine« Sonnenbrille und den kleinen Plüsch-Mammut aus meinem Bulli hinzu. Dann sage ich: »Gute Reise, Moby.« Wir alle nicken kurz und beginnen, das Grab wieder zuzuschaufeln.

Anfangs mag ich die sandige Erde nicht auf seinen Kopf werfen und lege sie nur ganz vorsichtig drumherum. Meine Söhne bekommen das mit und helfen mir. Sie bedeckten seinen Kopf vorsichtig mit Erde, dann kann auch ich weiter machen. Als wir fertig sind lege ich meine Wackel-Hula-Dame und ein Spielzeug Bulli, beides Dinge aus Bo, auf die frisch aufgehäufte Erde. 

»Was ist wichtiger?«, fragte großer Panda, »Der Weg oder das Ziel?«
»Der Wegbegleiter.«, sagte kleiner Drache.

Ab jetzt fühlt sich die Zeit für mich so an, als würde sie stehen bleiben, so als würde die Erde sich einfach langsamer drehen. Am Tag nach Moby’s Tod werde ich krank. So krank, dass ich fast drei Wochen nur im Bett oder auf meinem Küchensofa liegen kann. Ich bin total erkältet, erschöpft und leer. Ich schaue viel vom Sofa aus durchs Fenster in den Himmel und beobachte die Wolken, den Regen, vorbeifliegende Vögel oder Insekten. Irgendwie schaffe ich es aber jeden Tag, zu meinen beiden Süßen mit dem Bulli zu fahren. Laufen kann ich die Strecke nicht. An den beiden Gräbern zu stehen, gibt mir Zuversicht. Ich freue mich jedes Mal darüber, ein bisschen bei ihnen sein zu können. 

Mir fällt bei einem Besuch dort mein Traum aus Moby’s letzter Nacht ein: es war so, als hätte Mila ihn abgeholt, als hätte sie ihn aufgefordert mit ihr zu kommen dahin, wo auch immer sie jetzt ist. Finnegan sagt nach ein paar Tagen zu mir, dass es sich nicht so anfühlt, als wäre Moby weg, sondern als hätte er es geschafft am Ende seiner Reise anzukommen. Was für ein schöner Gedanke.

An einem anderen Tag treffe ich meinen mittlerweile 95jährigen Schwiegeropa bei den Gräbern an. Wir unterhalten uns kurz, ihm fällt auf, dass ich sehr stark erkältet bin. Daraufhin sagt er einen bedeutenden Satz zu mir: »Das ist uns irgendwie gegeben – uns Menschen – dass wir immer wieder Aufstehen.« Wie Recht er hat. Ich muss auch dieses Mal, nach diesem Verlust, wieder aufstehen, obwohl ich so müde bin vom immer wieder Aufstehen müssen. Aber ich fange irgendwann an, kleine Runden durch den Wald zu gehen. Ich hoffe, dort – wie damals bei Mila’s Tod – Moby’s Seele irgendwie begegnen zu können. Das passiert aber nicht. Denn eigentlich fühle ich, dass er immer bei mir ist. Mein so unendlich treuer Freund, der mich nicht losläßt. 

Danke, dass du mich begleitet hast.