Bo am Steinsee

Grenzgängerin

Klettern am Sustenpass in der Schweiz 

Schon wieder bin ich unterwegs! Diese Mal für eine Woche zum Klettern in der Schweiz. Wir sind zu sechst, fahren zu dritt in je einem Auto. Bo ist natürlich mein Gefährt. Wir wollen eine Weile am Steinsee wild campen und dort die angrenzenden Klettermöglichkeiten erkunden und ein oder zwei Nächte auf der Sustlihütte schlafen. Da möchten wir den Südgrat des Trotzigplangstock besteigen.

Ich war noch nie zuvor in den Alpen klettern und zweifle ein bisschen an meinen Fähigkeiten. In diesem Jahr bin ich viel rumgekommen und dadurch wenig geklettert. Ausserdem war ich bis vor kurzem noch eher ängstlich, was Klettern ab einer bestimmten Höhe angeht. But: if you never go, you will never know. Mein neues Lebensmotto hilft mir bei der Entscheidung mitzufahren. 

Steinseegletscher

Die ersten Tage klettern wir uns ein wenig ein. Ich lerne nochmals Mehrseillängen zu sichern, abseilen und alles andere was dazu gehört.

Wir campen an diesem wunderschönen blau-türkisem See, der vom Steinseegletscher gespeist wird. Tag und Nacht hören wir das Wasser vom Gletscher in den See fließen. Dieses beständige Rauschen und der eher kleine Gletscher stimmt uns nachdenklich. Hier sehen wir eindeutig, was wir Menschen unserem Planeten antun.
Natürlich lässt sich darüber diskutieren, dass die Alpen vor etwas mehr als 2000 Jahren bereits durch Erderwärmung eisfrei waren. Sicherlich ein normaler Prozess in der Geschichte der Erde. Nur dieses Mal haben wir Menschen (und davon nur ein recht kleiner Teil!) das verursacht und zwar innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums.
Wir sind uns einig, dass sich der Planet kurz schüttelt, sollten wir es schaffen uns selber damit auszurotten, tiefdurchatmet und dann weiter macht. So makaber das ist, ist dies ein tröstlicher Gedanke.

Mehr als ein Bier am Abend schaffen wir meist nicht  😉

Außer dem Plätschern des Schmelzwasserbaches und dem Blöken von einigen Schafen hören wir hier am See nichts. Um uns herum gibt es Berggipfel, klare Luft und nachts einen tiefschwarzen Himmel voller unzähliger Sterne. Wir können die Milchstraße ganz eindeutig erkennen. Es ist nachts unglaublich kalt. Viele andere Camper gibt es nicht.
Der Parkplatz ist mit einem Kompostklo bestückt. Waschen können wir uns nach der Kletterei im bzw. eher am Gletschersee – zum Reinhüpfen ist er zu eisig. Also muss der gute alte Waschlappen herhalten – natürlich ohne Seife, wir wollen den See ja nicht unnötig damit belasten!
Abends kochen wir gemeinsam und alles, was wir zubereiten und essen schmeckt uns unglaublich gut. Unsere Stimmung ist ausgelassen. Wir sind schon mal laut, albern und meistens unbeschwert.
Ich merke mal wieder, wie gerne ich draussen bin und wie gut es mir tut mich fernab der eigentlich Norm zu bewegen. »Draussen zu Hause«, der Slogan dieser Outdoor-Marke mit der Tatze, trifft 100% auf mich zu.

Die Sustlihütte

Nach vier Tagen steigen wir zur Sustlihütte auf. Leider regnet es am nächsten Tag und wir müssen unseren Plan für die Gratbegehung um einen Tag verschieben.

Ich hadere die ganze Zeit mit mir, ob ich mitgehen soll. Ich weiß, dass es anstrengend für mich wird, körperlich wie mental. Abends auf der Hütte versuche ich beim Bergführer am Nachbartisch und seinen beiden Kunden herauszufinden wie genau dieser Grat denn aussieht. Geht es wirklich über super schmale Felsformationen und ich kann an beiden Seiten mehrere hundert Meter in die Tiefe blicken? Falls ja, ist meine größte Sorge, dass ich das mental nicht kann und dann da oben hocke und einfach nur Angst bekomme. Ich beschließe dennoch einfach mitzugehen und mir das Ganze mal vor Ort anzugucken.

Aufbruch zum Trotzig

Am nächsten Morgen geht es früh los. Um 6.30 starten wir den Aufstieg. Wir laufen ca. 1,5 bis 2 Stunden bergauf, um zum Einstieg zu kommen. Der letzte Teil des Zustieges führt über ein Eisfeld komplett mit Geröll bedeckt. Ich kann das Schmelzwasser und purzelnde Steine unter mir hören. Das ist ein sehr merkwürdiges Gefühl und bereitet mir Unbehagen.

Am Einstieg angekommen bekomme ich eine Art Vorpanik, schüttle sie mit etwas Tränen in den Augen weg und klettere meinem liebem Seilpartner hinterher. Also geht’s los über den Grat. 11 Seillängen lang. Und es ist genauso wie man sich einen Grat vorstellt. Rechts sehe ich ein großes Gletscherfeld, links Geröll, beides mehrere hundert Meter unter mir.
Teilweise ist der Fels so schmal, dass wir uns oben an der Kante festhalten während wir mit den Füßen auf Reibung am Fels entlang tippeln. Eigentlich ist das normale Klettertechnik für mich, aber eben nicht in einer solchen Höhe 😉
Ich bin die ganze Zeit super konzentriert und echt angespannt. Aber irgendwann fange ich an, die Kletterpassagen zu mögen – von genießen möchte ich nicht reden, aber die Art der Kletterei ist mein Ding. Ich bewege mich wie in Zeitlupe, tue alles super genau und bewußt und oft rede ich mir selber gut zu, dass ja nichts passieren kann. Ich frage x-mal nach, ob ich sicherungstechnisch alles richtig mache und kommentiere jedes Ausklinken einer Expresse. Das Wichtigste ist jedoch, dass ich meinem Kletterpartner vertraue und zwar zutiefst.

Dieser kleine Mensch in Orange, das bin ich!

Die Höhe macht mir am Ende nicht mehr so viel aus. Ich schaue oft runter und bin fasziniert. Am Gipfel kann ich mich trotzdem nur halb freuen, weil ich immer noch recht angespannt bin und es irgendwie nicht wirklich fassen kann, was ich hier gerade gemacht habe. Da gehe ich zum ersten Mal in den Alpen klettern und muss direkt über einen Grat … Irgendwie total irre. Aber okay.

Nach einer Brotzeit auf dem Gipfel geht’s an den Abstieg. Wir tauschen die Kletterschuhe gegen Wanderschuhe und mein Seilpartner nimmt mich ans kurze Seil. Ich frage mich noch warum und merke eigentlich zeitgleich, dass ich ganz schön fertig bin. Der Abstieg, ein paar Abseilpassagen und der Weg zurück über das geröllige Eisfeld schaffen mich komplett. Die meiste Zeit befolge ich recht willenlos die Anweisungen meines Partners. Ich werde immer langsamer. Aber meine Seilschaft läßt mich nicht im Stich. Bevor ich mich im kompletten Tunnel befinde bekomme ich von den anderen Energie- und Eiweißriegel, nehme irgendwann ein Schmerzmittel und schaffe es super langsam den Berg runter. Alle scheinen ein Auge auf mich zu haben. Ich rutsche zweimal aus, tue mir aber nicht sonderlich weh. Irgendwann beginnt das Schmerzmittel zu wirken oder die Riegel, wer weiß das schon, und ich fühle mich besser. Wir haben uns mittlerweile aufgeteilt und ich bin nur noch mit einem meiner Kletterbuddies unterwegs. Die anderen sind schon weiter abgestiegen und wollen anfangen zu kochen. Absolut sinnvoll, weil es bald dunkel wird.

Wir essen schlussendlich gemeinsam am Parkplatz unterhalb der Hütte und fahren dann noch zu unserem angestammten Schlafplatz am Steinsee. Dort verbringen wir einen wundervollen letzten Abend. Wir sind alle müde, stapeln uns im Bulli auf ein kurzes Getränk und freuen uns, dass wir den Grat geschafft haben.

Unser Lager am See

Am nächsten Tag ist mein Gesicht, vor allem um die Augen, total angeschwollen. Ich habe kaum Hunger und im Laufe des Morgens bekomme ich Kopfschmerzen. Wir packen alles zusammen, da wir heute abreisen wollen. Ich verabschiede mich beim morgendlichen Waschen innerlich vom Steinsee.

Da es mir nicht so gut geht bin ich Beifahrerin in Bo. Beim Serpentinenfahren zurück ins Tal wird mir übel. Ich schaffe es jedoch mich bis kurz hinter Basel zusammenzureißen, erst dann muss ich mich an einer Raststätte auf der Toilette übergeben. Danach geht es mir eindeutig besser. Meine Kletterbuddies und ich buchen das als Überanstrengung mit leichter Höhenkrankheit ab.
Der Grat hat mich geschafft, aber ich habe auch ihn geschafft. Wie sich das anfühlt? Super!! Ich bin an meine Grenzen gegangen. Ich habe etwas getan, was ich vor einiger Zeit noch für unmöglich gehalten habe. Ich hätte kneifen können. Aber ich wollte an meine Grenzen gehen und bin den Grat hoch und wieder runter gekommen. Ich habe oben auf diesem Berg gesessen und die umliegenden Gipfel bewundert. Ich bin über diesen Grat geklettert und konnte diese unglaubliche Erfahrung machen. Dafür musste ich eine gewisse Linie überschreiten und sozusagen zur Grenzgängerin werden.

Aus irgendeinem Grund, denn ich zur Zeit noch nicht verstehe, bin ich mir sicher, dass ich meine neuen Skills, nämlich meine Grenzen zu spüren und zu kennen, in Zukunft besser anwenden werde. Ich werde anderen nicht mehr erlauben gewisse Linien zu überschreiten, die ich als meine Grenzen empfinde. Ich bin Grenzgängerin – ja – aber meine Grenzen, die bestimme ich und darf auch nur ich ausreizen! Danke dafür, lieber Trotzig!